Das Hohelied

  

Heinrich Heine

 

 

Des Weibes Leib ist ein Gedicht,

Das Gott der Herr geschrieben 

Ins große Stammbuch der Natur, 

Als ihn der Geist getrieben.

  

Ja, günstig war die Stunde ihm, 

Der Gott war hoch begeistert; 

Er hat den spröden, rebellischen Stoff 

Ganz künstlerisch bemeistert.

  

Fürwahr, der Leib des Weibes ist 

Das Hohelied der Lieder; 

Gar wunderbare Strophen sind 

Die schlanken, weißen Glieder.

  

O welche göttliche Idee 

Ist dieser Hals, der blanke, 

Worauf sich wiegt der kleine Kopf,

Der lockige Hauptgedanke!

  

Der Brüstchen Rosenknospen sind 

Epigrammatisch gefeilet; 

Unsäglich entzückend ist die Zäsur, 

Die streng den Busen teilet. 

 

Den plastischen Schöpfer offenbart 

Der Hüften Parallele; 

Der Zwischensatz mit dem Feigenblatt 

Ist auch eine schöne Stelle. 

 

Das ist kein abstraktes Begriffspoem! 

Das Lied hat Fleisch und Rippen, 

Hat Hand und Fuß; es lacht und küßt 

Mit schöngereimten Lippen. 

 

Hier atmet wahre Poesie! 

Anmut in jeder Wendung! 

Und auf der Stirne trägt das Lied

Den Stempel der Vollendung. 

 

Lobsingen will ich dir, o Herr, 

In deines Liedes Prächten; 

Ich widme seinem Studium

Den Tag mitsamt den Nächten. 

 

Ja, Tag und Nacht studier ich dran, 

Will keine Zeit verlieren; 

Die Beine werden mir so dünn - 

Das kommt vom vielen Studieren.